Vielkorrigierer:innen - die Ungerechtigkeit im Schulsystem

Das ungerechte Deputat-Modell - das langsame, stille und einsame  Dahinsiechen aller Korrekturlehrkräfte unter Bergen von Klassenarbeiten!

Nahezu alle jungen Kolleg:en:innen haben Fächer studiert, die ihnen Freude machen und  starten mit stark ausgeprägtem Idealismus in den Lehrkräfteberuf. Dass sich aber die Freude und Idealismus schon bald in ein dunkles, graues Entsetzen verwandeln würden, hatten sie sich in ihrer Naivität als Berufseinsteiger:innen sicher nicht vorgestellt. Wie kann das geschehen?

Schon nach wenigen Jahren im System stellen viele Lehrkräfte fest, dass nicht alle Lehrer:innen gleich sind, wie es z. B. die größte Lehrer:innen-Gewerkschaft propagiert. Die ursprüngliche vitale Energie vieler Junglehrer:innen wird mit jedem Dienstjahr geringer. Warum? Sie fragen sich immer öfter: Wie kann ich dem Lehrkräfteberuf gerecht werden? Wie kann ich es schaffen, meine Energie aufzutanken? Warum muss ich ständig gewaltige Korrekturberge in meiner Freizeit nach der Schule, am Wochenende und in meinen Ferien bewältigen? Wer schützt mich?

Wir müssen feststellen: Lehrer:innen sind nicht gleich! Die Unterrichtsfächer unterscheiden sich gravierend in ihrer Vor- und Nachbereitung. In den Hauptfächern müssen z. B. in jedem Jahrgang obligatorische Klassenarbeiten geschrieben werden. Ihre Anzahl wird vorgeschrieben, ebenso wie die dreiwöchige Korrekturzeit eines Klassensatzes (VV 6.1.2 zu § 6 der APO-SI). Dies stellt eine deutliche Mehrbelastung für korrigierende Lehrkräfte dar. Auch in der Oberstufe gibt es diese Unterschiede! So müssen im Grundkurs Deutsch obligatorisch alle SuS bis einschließlich 13.1 Klausuren mitschreiben, auch wenn sie das Fach Deutsch nicht als Prüfungsfach gewählt haben. Im Fach Geschichte dagegen müssen SuS nur mitschreiben, wenn sie dieses Fach als Prüfungskurs gewählt haben.

Warum diese Unterschiede?

Die Lehrkräfte teilen sich in zwei Gruppen:
„Vielkorrigierer:innen“ und „Wenigkorrigierer:innen“

Diese Unterscheidung ist in Bezug auf den Gesundheits- und Arbeitsschutz, die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, die Arbeitszeiterfassung, die Fürsorgepflicht des Arbeitgebers und die bisher nicht anerkannten unbe-
zahlten Mehrarbeit für die Korrektur gravierend.

Korrekturfachkräfte leiden in der Regel leise! Sie schweigen einfach! Sie haben keine Energie mehr!

Sie möchten laut aufschreien, aber es geht nicht mehr. Sie sind froh, wenn sie überhaupt noch den Schulalltag bewältigen können. Sie leisten z. B. bis zu 665,50 Stunden im Jahr nicht anerkannte Mehrarbeit. Dies sind über sechzehn 41-Stunden-Wochen Mehrarbeit im Jahr! Ein Skandal! Eine Ungerechtigkeit des schulpolitischen Systems, die bisher wissentlich hingenommen wird!

 

Das Land NRW vernachlässigt hier seine Fürsorgepflicht und bringt zugleich sein verantwortungsloses Handlungskonzept Unterrichtsversorgung auf den Weg:  Voraussetzungslose Teilzeit, der Rettungsanker vieler Korrekturlehrer:innen, soll nun verschärft nicht mehr gewährt werden, wenn dienstliche Gründe dagegen sprechen. Anders ausgedrückt, Lehrkräfte „ertrinken“ in Mehrbelastung, fallen aus und der Mangel an Lehrkräften erhöht sich.

Wir von SchaLL hören die leisen Hilferufe und wollen sie verstärken. SchaLL steht in seinem Wesen für Gerechtigkeit!  Wir fordern Gerechtigkeit für „Vielkorrigierer:innen“:

  • Schaffung von Zeitressourcen für Lehrkräfte mit Korrekturen
    (z. B. bessere Stundenpläne, Verringerung von Springstunden, freie Nachmittage, …)
  • Herabsetzung der Pflichtstundenzahl je nach Korrekturaufwand (z. B. je nach Anzahl der Gruppen und Stufe)
  • Höhere Gewichtung von Korrekturarbeit bei dienstlichen Beurteilungen
  • Arbeitszeiterfassung durch Vertrauensarbeitszeit (digitale An-/Abmeldung z. B. mittels App im häuslichen Bereich)
  • Verbesserung der Lebensqualität und Erhaltung der Gesundheit durch Reduktion von Korrekturbelastung:
    > Reduktion der Anzahl der Korrekturen pro Schuljahr
    > Alternative Bewertungsmöglichkeiten z. B. Projektarbeiten
    > Vereinfachung der Aufgabenformate
    > Studentische Hilfskräfte als Erstkorrigierer:innen von Arbeiten
  • Schulassistent:innen, die verwaltende Arbeiten übernehmen: z.B. Klausuren und Klassensätze kopieren.
  • Einrichtung von Lebensarbeitszeitkonten, wodurch z. B. ein früherer Ruhestand oder Sabbatzeiten möglich werden.
  • Keine unbezahlte Korrektur-Mehrarbeit mehr und die Einhaltung von Arbeits- und Gesundheitsschutz auch im häuslichen Bereich aller tarifbeschäftigten und verbeamteten Lehrkräfte.

Einzelfallbeispiel: Frau Meier - Vielkorrigiererin

Kollegin Frau Meier
Alter: 45 Jahre alt
Schulform: Gesamtschule
Unterrichtsfächer: Deutsch und Englisch (Sek II)
Stelle: 25,50 LWS (41 Zeitstunden)
Familienverhältnis: Geschieden
Kinder: 2 Töchter (12 und 13 Jahre alt)

Unterrichtsverteilung für ein beispielhaftes Schuljahr:

Summe der Korrekturzeiten von Frau Meier 

196,00 Std., Q2 Deutsch LK, 28 SuS
104,00 Std., EF Englisch GK, 26 SuS
175,00 Std., Q1 Deutsch GK, 25 SuS
  87,00 Std., 10  Deutsch E-Kurs, 29 SuS
  60,00 Std., 08 Deutsch G-Kurs, 24 SuS
  43,50 Std., 05 Englisch  29 SuS
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665,50 Std. Gesamtzeit der obligatorischen Korrektur im Schuljahr
665,50 Std. = ca. 16 41-Std.-Wochen

Grundlage der Berechnung: Ermittelte durchschnittliche Korrekturzeiten in den Jahrgängen pro Arbeit /Klausur [1]

Jahrgangsstufe                         Zeitlicher Aufwand

5. + 6.  Jahrgangsstufe             pro Schülerarbeit 15 min.       

7. + 8.  Jahrgangsstufe             pro Schülerarbeit 30 min.       
9. + 10. Jahrgangsstufe            pro Schülerarbeit 45 min.      
11.  Jahrgangsstufe                  pro Schülerarbeit 60 min.       

12.+13. Jahrgangsstufe GK      pro Schülerarbeit 90 min.       

12.+13. Jahrgangsstufe LK       pro Schülerarbeit 105 min.    

Abgesehen von der obligatorischen Korrektur der Klausuren, Kurs- und Klassenarbeiten sind in dieser Rechnung keine wöchentlichen Vokabeltests, Diktate und Mappenkontrollen enthalten. Auch die Unterrichtsvorbereitungen wie das Lesen von Schullektüren und Sekundärliteratur, das Erstellen differenzierter Übungen (Gemeinsames Lernen), Wochenpläne und SOL-Bögen sind hierbei noch nicht berücksichtigt.  Außerdem erhöhen noch die Zentrale Abschlussprüfung im 10. Jahrgang, die Lernstandserhebung im 08. Jahrgang und die mündlichen und schriftlichen Abiturprüfungen die Korrektur- und Mehrarbeit um ein Vielfaches.   


[1]Hierbei handelte es sich um eine persönliche Befragung von  30 Korrekturlehrer:innen im Jahr 2018. Sie wurden gefragt, wie lange ihre individuelle, durchschnittliche Korrekturzeit einer schriftl. Arbeit in den unterschiedlichen Fächern (Deutsch, Mathematik, Englisch) und Jahrgängen dauert. Die Ergebnisse der Befragung wurden in der Tabelle zusammengefasst.

Das traurige Fazit

Dies sind über 16 41-Stunden-Wochen Mehrarbeit. Somit ist der Burnout nur eine Frage der Zeit!  Anders gesagt, diese Korrekturlehrerin Frau Meier muss ohne entsprechende Entlastungen und Bezüge mindestens 4 Monate im Jahr mehr arbeiten als Nicht-Korrekturlehrer/innen. Das ist eine vom schulpolitischen System wissentlich hingenommene Ungerechtigkeit! In der Freien Wirtschaft wäre dieses so nicht möglich! Das Land NRW vernachlässigt hier offensichtlich seine Fürsorgepflicht.

Dieses Beispiel demonstriert zugleich die Unvereinbarkeit von Familie und Beruf: Die Korrekturen werden überwiegend im häuslichen Bereich als unbezahlte Mehrarbeit geleistet. Viele Lehrkräfte müssen an Wochenenden und in der Woche bis spät in die Nacht arbeiten, um die Korrekturberge zu bewältigen. Wo ist der Arbeitsschutz? Was ist mit der Arbeitszeiterfassung? Was ist mit der Verhältnisprävention? Die Schulträger wie das Land NRW entziehen sich ihrer Verantwortung. Warum werden überhaupt COPSOQ-Befragungen durchgeführt, wenn nicht gehandelt wird! Die Bildungskatastrophe 2.0 ist kein Zufall! Das politische System hat hier versagt. 

Es ist also kein Wunder, dass die Korrekturlehrkräfte im schulischen System die Verlierer sind: keine Zeit für die eigenen Kinder; keine Zeit für Freundschaften und Partnerschaft; keine Zeit zur Erholung und zum beruflichen Fortkommen, stattdessen unbezahlte, nicht versiegende, scheinbar grenzenlose häusliche Korrektur-Mehrarbeit. Die schlechten Arbeitsbedingungen gehen inzwischen in vielen Medien viral.

Kein Wunder, dass immer weniger Menschen bereit sind, den Beruf des Lehrers oder der Lehrerin zu ergreifen.